Wi(e)der „neue Lernkultur“

Es ist mal wieder Zeit für so einen Blog-Beitrag. Es geht diesmal nicht in erster Linie um die Digitalisierung, sondern vor allem um den Aspekt der Individualisierung schulischer Bildung. Ich stelle im Folgenden meinen Standpunkt als Pädagoge zu dieser Frage pointiert dar. Mich würden aber auch andere Sichtweisen interessieren, vor allem solche von Lehrer:innen mit praktischer Erfahrung in Reformpädagogik, die das Ganze womöglich anders sehen und erleben. Gerne als Kommentar unter diesem Beitrag!

Interessanterweise laufen aktuell Grundschullehrer:innen Sturm gegen das, was die Professorin der Grundschulpädagogik und -didaktik an der LMU München Uta Hauck-Thum im Gespräch mit dem Bayrischen Rundfunk aus dem IQB-Bildungstrend an Forderungen und Wünschen ableitet.[Wie die Schule von morgen aussehen kann | BR24] Ich teile die Kritik der bayrischen Kolleg:innen. Sie bezieht sich auf die immer neuen, zeitintensiven Anforderungen an sie bei gleichzeitiger Personalknappheit. Letztere konterkariert die aktuell vor allem im Netz herumgeisternden, von wohlklingenden Worthülsen strotzenden Konzepte „zeitgemäßer Bildung“, die von der Professorin aus München im Gespräch aufgegriffen werden.

Ich denke, Hauck-Thum unterlaufen nach teilweise richtiger Diagnose der Ausgangslage mehrere Fehler. So fordert sie, gerade auch für strukturell benachteiligte Kinder, mehr individualisierten Unterricht: „Sie müssen auch dort verstärkt agieren als Teil einer lernenden Gemeinschaft, in die sie sich gemäß ihrer individuellen Lernausgangslage in Austausch und Gestaltungsprozess einbringen können. Und sie müssen natürlich auch hier individualisierte Lernangebote vorfinden.“ Das klingt ein wenig nach der Quadratur des Kreises, auch wenn mir der Ausdruck „lernende Gemeinschaft“ ganz gut gefällt.

Meine Haltung zur heutzutage immer wieder unisono mit derartigen reformpädagogischen Ansätzen geforderten Digitalisierung des Unterrichts kann man hier im Blog nachlesen; sie spielt für den Aspekt der Individualisierung aber keine wesentliche Rolle. Der Einsatz von Technik im Dienste der unterrichtlichen Vermittlung sollte jedenfalls nicht im Vordergrund stehen, sondern eher selbstverständlich nebenher mitlaufen und nicht vom Wesentlichen ablenken. Blumige Sätze wie „Viel wichtiger sei es aber [laut Hauck-Thum], Lehr- und Lernprozesse vor dem Hintergrund eines kulturellen Wandels [gemeint ist die Digitalisierung, Anm. d. Verf.] komplett neu zu denken.“ sorgen in dieser Hinsicht nicht gerade für Klarheit, sondern beunruhigen mich eher.

„Vielleicht [sic!], so Hauck-Thum, ist Schule in Zukunft ja auch ein Ort für soziale und demokratische Prozesse. Denn dafür bräuchte man den direkten Kontakt. Es wäre demnach wichtig, Schule in Zukunft nicht nur als reinen Ort der Wissensvermittlung zu verstehen, sondern nebst anderen Faktoren die Fähigkeit des kritischen und reflektierten Denkens zu fördern.“ Diese meines Erachtens richtige, wenn auch nicht gerade neue Normsetzung beißt sich doch sehr mit der zuvor gehypeten individualisierten Digitalkultur. Manches, was Frau Hauck-Thum vorschlägt, finde ich auch richtig gut, z.B. längeres gemeinsames Lernen, aber dann schüttet sie wieder das Kind mit dem Bade aus, etwa mit der pauschalen Forderung, Schulnoten abzuschaffen.

„Neue Lernkultur“ (wahlweise auch „zeitgemäße Bildung“ oder „zeitgemäße Prüfungskultur“) zielt häufig auf die Individualisierung unterrichtlicher Lernprozesse ab. Nicht selten wird sich dabei auf angeblich für die Pädagogik instruktive Erkenntnisse der Hirnforschung bezogen oder auch schlichtweg auf die Tatsache, dass Lernen ein individuell unterschiedlich ablaufender Prozess ist, was zwar stimmt, aber nicht automatisch Rückschlüsse darauf zulässt, welche Unterrichts- und Sozialformen im Allgemeinen optimal für Lernprozesse sind. Ich spreche daher im Folgenden auch nicht von individuellem Lernen, sondern von individualisiert organisierten Lernprozessen bzw. von individualisiertem Unterricht.

Meine zu den Konzepten „zeitgemäßer Bildung“ konträre These lautet: Die soziale, räumliche und zeitliche Organisation von Lernprozessen unter der Maßgabe der Individualisierung ist bei weitem nicht für alle Kinder die passende Unterrichtsform. Die Vertreter der „neuen Lernkultur“ blenden in der Regel die sozio-ökonomischen und habituellen Voraussetzungen der Lernenden (und übrigens auch die der Lehrenden) systematisch aus, was zu falschen Prämissen und folgenschweren Fehlschlüssen führt.

In den folgenden Ausführungen beziehe ich mich u.a. auf Aladin El-Mafaalani („Mythos Bildung“). Dieser schreibt sinngemäß, dass man bei der Konzeption von Unterricht weder von perfekten Lehrer:innen noch von intrinsisch motivierten Schüler:innen ausgehen darf. Das finde ich richtig und wichtig. Bei der Entscheidung für oder gegen die Übernahme neuer didaktisch-methodischer Konzepte wie der oben skizzierten ist es daher dringend notwendig, die Gelingensbedingungen individualisierten Unterrichts realistisch einzuschätzen, sie zu beachten und dabei immer von einer Analyse der auf der Seite der Lernenden je unterschiedlichen sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen schulischer Bildung auszugehen.

Strukturell benachteiligte Kinder (d.h. Kinder aus sogenannten bildungsfernen Milieus bzw. Familien und armutsbetroffene Kinder) können sich häufig nicht gut selbst organisieren. Sie sind es aufgrund ihrer Lebensumstände nicht gewohnt, eigenverantwortlich bewusste Entscheidungen für sich selbst zu treffen. Man mag dies zu Recht beklagen, aber es ist zunächst einmal eine Realität, die Schule von sich aus nicht einfach ändern kann. Dagegen wären sozialpolitische Maßnahmen wie etwa direkte Armutsbekämpfung und an Eltern in prekären Arbeits- und Lebensbedingungen gerichtete niedrigschwellige Angebote in Form von Hilfen bei der Erziehung wahrscheinlich am besten geeignet.

Das selbständige Lernen und die Selbstorganisation müsste die Schule denjenigen Kindern, die keinen in dieser Hinsicht funktional wirkenden familiären bzw. sozio-habituellen Hintergrund haben, erst einmal vermitteln. Dies wäre wohl – ironischerweise – in individualisierter Form am erfolgversprechendsten, etwa als auf die Lebensbedingungen des jeweiligen Kindes zugeschnittenes, es kontinuierlich begleitendes Einzelcoaching, da die Erfolgsaussichten individualisierten Unterrichts sehr stark von der sozio-habituellen Prägung des Kindes sowie von seinen materiellen Lebensumständen abhängen. Maßgeblich wäre bei derartigen Einzelcoachings der regelmäßige Kontakt und Aufbau einer Lehr-Lern-Beziehung zu mindestens einer Person mit bildungsförderlichem Habitus.

Bei den entscheidenden Rahmenbedingungen „selbstgesteuerten Lernens“ bestehen also individuell große Unterschiede. Diese werden durch den gemeinsamen Erfahrungs- und Lernraum Schule aber keinesfalls aufgehoben, sondern bestenfalls abgemildert. Die (im Idealfall individualisierte) Vermittlung von Selbstorganisationsfähigkeit und -fertigkeiten wäre allerdings personalintensiv und der Grad ihrer Wirksamkeit ist ungewiss, so lange sich an den familiär-sozialen und materiellen Begleitumständen nichts ändert. Es stellt sich deshalb die Frage, ob das Unterrichten in herkömmlichen Settings (vom Lehrer gesteuert, instruktiv, kleinschrittig getaktet) nicht sinnvoller und Ressourcen schonender wäre als individualisierter Unterricht – zumindest so lange, bis die Kinder wirklich in der Lage sind, eigenverantwortlich zu lernen.

An dieser Stelle möchte ich eine begriffliche Klärung des Begriffs „selbstgesteuertes Lernen“ (oder auch „eigenverantwortliches Lernen“) vornehmen. Ich unterscheide im Folgenden idealtypisch zwischen selbstorganisiertem und selbstbestimmtem Lernen. Selbstbestimmtes Lernen würde meiner Auffassung nach bedeuten, dass Kinder ihre Lerngegenstände, Frage- und Problemstellungen, Materialien, Räume, Lehrpersonen, Mitlernenden, Zeitgestaltung sowie Sinn- und Zielperspektiven weitestgehend selbständig festlegen. Dies schließt das schlichte Abarbeiten von Lehr- bzw. Lernplänen (zumindest als einzige Möglichkeit) aus. Diese Lernform ist sehr voraussetzungsreich, was individuelle wie auch institutionelle Rahmenbedingungen angeht. Es erfordert eine hohe Selbstorganisationsfähigkeit der Lernenden, die keinesfalls bei allen Kindern vorausgesetzt werden kann (s.o.). Die Anforderungen an die räumlichen-materiellen und personellen Bedingungen der Schule sind hoch, da zu starke Einengungen bzw. zu geringe Auswahlmöglichkeiten (hinsichtlich Räume, Lehrer, Materialien usw.) die Idee des selbstbestimmten Lernens konterkarieren würden.

Selbstorganisiertes Lernen hingegen bedeutet nach meinem Verständnis, dass das Kind einem von außen vorgegebenen Plan folgt, wie immer man diesen auch nennen mag und wie variabel und individualisiert dieser auch sein mag, wobei es Einfluss auf die räumlich-zeitliche Gestaltung, Geschwindigkeit, Schwerpunktsetzung und Intensität des Lernprozesses nehmen kann. Letztlich stellt selbstorganisiertes Lernen also die zumindest teilweise Übernahme der pädagogischen Perspektive durch das Kind dar, wobei der Lernprozess innerhalb des vorgegebenen Rahmens im Idealfall bestmöglich abgestimmt auf seine individuellen Voraussetzungen organisiert ist. Der Vorteil dieser Unterrichtsform wäre also vor allem in der damit zu erzielenden Effizienzmaximierung des Lernprozesses zu sehen. Dies kann durchaus im Sinne der Lernenden sein, da Leerlauf und sinnlos im Klassenzimmer verbrachte Zeit vermieden werden.

Umgekehrt bedeutet selbstorganisiertes Lernen nicht, dass die Inhalte des vorgegebenen Lernplans automatisch von den Lernenden als sinnerfüllt erlebt werden, vielmehr ist eine Reflexion über die Sinnhaftigkeit des Lernstoffs für das Individuum gerade kein zwingender Bestandteil des selbstorganisierten Lernens, im Gegensatz zum selbstbestimmten Lernen. Auch selbstorganisiertes Lernen ist voraussetzungsreich, allerdings eher auf der Seite des Kindes als auf der institutionellen Seite, was die räumlichen, zeitlichen und personellen Rahmenbedingungen angeht, die nichtsdestotrotz auch erst einmal entsprechend organisiert sein müssen.

Was meiner Wahrnehmung nach bei den aktuell populären reformpädagogischen Ansätzen vor allem fehlt, ist die Dimension der Sozialität. Diese wird meines Erachtens durch den gelegentlichen Einsatz wechselnder Sozialformen wie Partnerarbeit oder Gruppenarbeit nicht erfüllt. Denn dabei steht für gewöhnlich Funktionalität in Hinblick auf den Lernprozess bzw. die Produktorientierung im Vordergrund (Stichwort Projekt-/Teamarbeit). Soziale Kompetenz als ein Lernziel unter vielen zu definieren, dieses dann aber ausschließlich in derartigen Settings zu vermitteln, halte ich für unzureichend. Ergänzend müsste viel stärker Sozialität selbst als Sinnzusammenhang in der Schule erfahrbar gemacht werden.

Ideal wäre für meine Begriffe eine Ergänzung des herkömmlichen Unterrichts im Klassenverband durch gelegentliche Gruppen- bzw. Projektarbeit und den regelmäßigen Besuch außerschulischer Lernorte sowie ein moderater Einsatz individualisierter Unterrichtsformen, z.B. zeitlich klar begrenzte „Lernbüros“. Diese haben, wie alle Unterrichtsformen, Vor- und Nachteile. Ihre Vorteile kommen meiner Einschätzung nach nur dann zur Geltung, wenn man sie sinnvoll und ausgewogen mit anderen Unterrichtsformen, z.B. mit direkter Instruktion, kombiniert. Eine zentrale Rolle für das Lernen spielt nach meinem Verständnis nach wie vor der Aufbau einer förderlichen persönliche Beziehung des Kindes zur Lehrperson – was leider oft genug nicht gelingt. Diesem Problem wäre vordringlich weiter nachzugehen.

Schöne neue Lernwelt?
Von der Magie der Gemeinschaft

Was denkst du?