Kernkompetenz Flexibilität

Ein Kommentar zum SPIEGEL-Artikel „Schule in Zeiten von Corona“ (14. April 2020) [*]

Schulen sind in der Corona-Krise gegen Übergriffe aus der Wirtschaft nur „bedingt abwehrbereit“[1]. Eine polemische Betrachtung in aufklärerischer Absicht.

Am Dienstag, 14. April 2020, während der Osterferien nach den ersten drei Wochen  Fernunterricht an deutschen Schulen, erschien im Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ ein Artikel mit der Überschrift „Schule in Zeiten von Corona. Was wir jetzt über das Lernen lernen“.[2] Der Artikel kann als exemplarisch für den herrschenden Diskurs zum Thema Schule gelten und ist somit einer näheren Betrachtung wert.

Das Problematische an diesem Text ist, dass in ihm (teilweise) berechtigte Fragen zum ‚Distanzunterricht‘ mit einer neoliberalen Agenda (nicht auf Anhieb erkennbar) verwoben sind.[3] Chefredakteur des Spiegels ist seit 2018 der, nach Einschätzung von Jörg Gastmann, „erzneoliberale“ Steffen Klusmann, „zuvor Chefredakteur des Manager Magazins, das einer Vertretung gesamt-gesellschaftlicher Interessen unverdächtig ist.“[4] Wir haben es hier also mit einem Artikel aus einem neoliberal geführten Medium zu tun. Die Autorin Silke Fokken, Redakteurin im Bildungsressort, reproduziert in ihrem Text den entsprechenden gesellschaftlichen Diskurs respektive die in der Spiegel-Redaktion vorherrschende „Denke“. Meine folgende Kritik ist dementsprechend nicht als Angriff auf die Person der Autorin zu verstehen, deren Integrität hier nicht in Zweifel gezogen werden soll, sondern als eine in Teilen polemische Auseinandersetzung mit ihren Thesen und Argumenten sowie eine genaue Analyse der Sprache und Begrifflichkeiten, in denen diese vorgetragen werden.

Der Text referiert zunächst eine in den ‚sozialen Netzwerken‘ verbreitete Tirade einer israelischen Mutter von vier Kinder zum Thema ‚Homeschooling‘ und wirft dann zwei Fragen auf, die perspektivisch weit über die aktuelle Krisenbewältigung hinausgehen:[5]

  1. Worauf kommt es im Unterricht eigentlich an?
  2. Was sollten Schulen in Zukunft anders machen?

Es handelt sich um zwei für die Reflexion schulischer Bildung grundlegende Fragen, die so oder ähnlich schon häufig gestellt wurden und notwendigerweise immer wieder gestellt werden müssen. Ihre Beantwortung obliegt normalerweise Erziehungswissenschaftlern, Schuldidaktikern und Lehrern, die über den nötigen bildungstheoretischen Hintergrund verfügen. Werden diese Fragen richtig beantwortet, so können sie sehr fruchtbar für die immer wieder notwendige Erneuerung (‚Renaissance‘[6]) von Bildung sein. Die folgenden Ausführungen Silke Fokkens lassen allerdings daran zweifeln, ob dies hier der Fall ist.

Sie stellt fünf Thesen auf:

  1. „Wer jetzt am Lehrplan festhält, hat den Bildungsauftrag missverstanden.“
  2. „Die Coronakrise fordert überfällige Antworten auf alte Ungerechtigkeiten.“
  3. „Wer heute auf die Bildungspolitik wartet, hat morgen verloren.“
  4. „Wer Plattformen pusht, darf die Pädagogen nicht vergessen.“
  5. „Wer mäßig motivierte Schüler vor sich hat, sollte mal umdenken.“

Die jeweils zugehörigen Argumentationen sollen hier auszugsweise wiedergegeben und kommentiert werden.

These 1: „Wer jetzt am Lehrplan festhält, hat den Bildungsauftrag missverstanden.“

Diese Aussage, die man ‚in Zeiten von Corona‘ unter gewissen Umständen gelten lassen könnte, wird zum Sprengstoff, wenn man das Wörtchen „jetzt“ weglässt. Es kommt dabei natürlich darauf an, was mit „am Lehrplan festhalten“ genau gemeint ist. Man könnte darunter z.B. die Betonung fachlicher Inhalte verstehen. Die Autorin setzt es mit „den Stoff 1:1 durchziehen“ gleich und liefert dazu ein abschreckendes Beispiel in Form eines Zitats von der Website des Sächsischen Sportgymnasiums Chemnitz, dessen Kollegium bzw. Schulleitung offenbar tatsächlich davon ausging, dass sich die Organisation und Taktung des schulischen Unterrichts unter den Bedingungen von ‚Homeschooling‘ unverändert aufrechterhalten lassen. Wohlgemerkt: hier geht es nicht um die Qualität des Lernens, sondern um rein Quantitatives („genau so viel Zeit, wie ihr Schulstunden hättet“, „genau so viel gelernt, wie ihr in der Schulzeit gelernt hättet“). Dieser unpädagogische, geradezu bildungsvergessene Ansatz ist offenbar aus großer Konzept- und Ratlosigkeit geboren, was allerdings mangels Zeit, stimmige Konzepte für den Fernunterricht zu entwickeln, nicht unbedingt erstaunen dürfte.

Die Autorin äußert denn auch Verständnis für die schulische Perspektive. Ihrem Einwand, dass „die meisten Kinder“ damit überfordert sein dürften, „sich einen Schultag von mindestens fünf oder sechs Stunden allein zur organisieren und konzentriert durchzulernen“, ist damit zu begegnen, dass eine derartige Maximalforderung in der Realität die Ausnahme sein dürfte. Die Überforderung der Schüler damit, ihr Lernen selbst zu organisieren, ist darüber hinaus u.a. abhängig vom Alter bzw. Entwicklungsstand der Schüler und kann deshalb nicht pauschal unterstellt werden, wenngleich Silke Fokken mit ihrer Kritik durchaus einen Punkt hat.

Ihre Anregung, Lehrkräfte könnten „eine begrenzte Lernzeit festlegen, Übungsaufgaben verteilen – und Ideen für an die Situation angepasste Projekte liefern, unabhängig vom Lehrplan: gute Bücher lesen oder (fremdsprachige) Filme sehen, einen persönlichen ‚Helden in der Coronakrise‘ porträtieren, einen Brief an Menschen im Altersheim schreiben“, ist sicher gut gemeint. Es geht ihr hier offenbar um sinnhaftes Tun, mitunter um das, was sie unter dem „Bildungsauftrag“ versteht. Warum dieser unbedingt unabhängig vom Lehrplan sein soll, wird inhaltlich nicht weiter begründet.

Nun könnte man nach den bisherigen Ausführungen der Autorin vielleicht den Eindruck gewonnen haben, Silke Fokken reihe sich in den Chor der Kritiker output- respektive kompetenzorientierter Lehrpläne ein, der zu Recht die Aushöhlung schulischer Bildung, ihre Reduktion auf Quantifizierbares und ihre Fremdbestimmung unter dem Primat der Wirtschaft moniert. Die Autorin gelangt aber zu einem völlig anderen Schluss: „Schulen könnten zeigen, dass sie nicht zwingend an Regularien festhalten, sondern auch eine Kernkompetenz [sic!] in einer sich schnell wandelnden Welt beherrschen und vermitteln: Flexibilität.“

Hier wird allen Ernstes reine Anpassungsfähigkeit zum Leitbegriff schulischer Bildung erhoben. Damit liegt Fokken auf einer Linie mit den Antreibern von ‚Bildungsreformen‘ und ‚Schulentwicklung‘, die sich der Methoden des change management bedienen. Hierbei werden unerwünschte, gefestigte Überzeugungen und Einstellungen der in Schule und Bildung Tätigen u.a. durch Stress und Überforderung infolge der Verdichtung des Arbeitsalltags „aufgetaut“ und durch neue Leitwerte, wie etwa das Menschenbild des homo oeconomicus, ersetzt.[7] Die Absicht hinter diesem Vorgang ist die Einpflanzung der neoliberalen Wettbewerbslogik ins Schulsystem. Analoge Entwicklungen in anderen gesellschaftlichen Teilbereichen, etwa im Gesundheitswesen, sind gut dokumentiert.[8] Die Corona-Krise ist den treibenden Akteuren dieses Prozesses sozusagen in den Schoß gefallen. Symptome der Krise wie zeitliche Verdichtung, Stress und Überlastung sowie das Infragestellen von Gewissheiten, eignen sich trefflich zum unfreezing und fungieren somit als Katalysator für die angesprochenen, für Gesellschaft und Demokratie verheerenden Entwicklungen in Schule und Bildung.

Damit nicht genug, spricht die Autorin im gleichen Atemzug mit der von ihr geforderten „Flexibilität“ auch noch die Themen Inklusion von Kindern mit Behinderung und Integration von Schülern, die nicht richtig Deutsch sprechen, an. Genau solche Herausforderungen sind es, die (zumindest in Form ihrer gegenwärtigen Umsetzung) zur Verdichtung der Arbeit und Überforderung in Schulen beitragen. „Solche Schulen, die spontan ihren Plan ändern, reagieren auch in Zukunft souveräner auf Herausforderungen“: Hier werden Versäumnisse der Politik zum alleinigen Problem der Schulen erklärt, die darauf eben „spontan“ und „flexibel“ zu reagieren haben, um ihre Souveränität zu bewahren. Ganz im Sinne von Manipulationsstrategien à la soft governance oder new public management sollen sich Schulen aus eigenem Antrieb in der gewünschten Weise anpassen, so dass Ein- und Übergriffe aus Politik und Wirtschaft im ‚besten‘ Falle nicht mehr nötig sind.[9] Die Idee, dass der Staat sich zurückzieht und dass Schulen sich selbst bzw. dem Wettbewerb von Bildungseinrichtungen untereinander überlassen werden (Stichwort ‚selbstständige Schule‘), passt perfekt ins Bild des neoliberalen Umbaus von Staat und Gesellschaft. Eine solche Politik des Laissez-faire erzeugt zusätzlichen Stress in den Schulen und anderswo – honi soit qui mal y pense.

Was nach Meinung der Autorin über „Flexibilität“ hinaus der eigentliche Bildungsauftrag der Schulen jenseits von Lehrplänen sein soll, bleibt offen bzw. nebulös („gute Bücher lesen“).

These 2: „Die Coronakrise fordert überfällige Antworten auf alte Ungerechtigkeiten.“

Das ist zweifellos richtig. Die Frage lautet allerdings: von wem, auf welche und mit welchem Ziel? „Das strikte Festhalten an Lehrplänen und Leistungserwartungen ist Symptom eines weiteren Problems“, meint die Autorin, und spricht dann die mangelnde Chancengerechtigkeit an. Viele Schulen hätten „entweder nicht auf dem Schirm oder sich damit abgefunden, dass nicht alle Kinder die gleiche Unterstützung zu Hause bekommen“.

Hierbei handelt es sich um eine seltsam verdrehte Argumentation. Als „Symptom“ wird nicht etwa die Tatsache gewertet, dass Eltern nicht in der Lage sind, ihre Kinder angemessen in ihrer Schulbildung zu unterstützen. Den Ursachen dieses Befundes wäre nachzugehen, etwa der infolge der neoliberalen Politik der letzten Jahrzehnte sich immer weiter öffnenden ‚sozialen Schere‘. Das „Symptom“ der sozialen Ungerechtigkeit sei vielmehr das „strikte Festhalten“ der Lehrer an fachlichen Inhalten. Dabei besteht zwischen beidem weder ein kausaler noch überhaupt ein sachlicher Zusammenhang. Somit wird den Lehrern ein Problem in die Schuhe geschoben, das sie in keiner Weise zu verantworten haben und das sie allein gar nicht lösen können.

Hilflose Vorschläge wie „Patenschaften von Pädagogen für bestimmte Schüler“ ins Leben zu rufen, u.a. um „mal [zu] fragen, wie es geht“, können allenfalls Symptome lindern, nicht aber die Krankheit heilen, um im Bild zu bleiben. Überdies ist ein solcher Ansatz, ebenso wie die in Kriegsmetaphorik gekleidete Forderung nach einer „Offensive [sic!] zum flächendeckenden Ausbau von Ganztagsschulen“ angesichts der vorher bereits durchgeklungenen Wettbewerbsideologie eher als Beruhigungspille für das soziale Gewissen zu betrachten denn als ernsthafter Vorschlag zur Behebung sozialer Ungerechtigkeit. Die Autorin verlangt denn gegen Ende ihrer Ausführungen zu These zwei auch nur noch, „Chancenungleichheit zumindest abzumildern.“ Polemisch gesprochen: Teile der Spiegel-Redaktion haben sich wohl damit abgefunden, dass nicht alle Eltern bzw. Familien die gleichen Chancen von der Gesellschaft bekommen (haben).

These 3: „Wer heute auf die Bildungspolitik wartet, hat morgen verloren.“

Die Formulierung von These drei: „Wer heute auf die Bildungspolitik wartet, hat morgen verloren.“ weckt ungute Assoziationen zur neoliberalen Wettbewerbsideologie. Kritisiert wird u.a., dass die „bundesweite Digitalisierung der Schulen verschleppt“ worden sei. Schuld sei das „ewige Gerangel“ zwischen Bund und Ländern, womit wohl der verfassungsmäßige Bildungsföderalismus gemeint sein muss.

Das zugrunde liegende Paradigma lautet also, dass es mit der Umsetzung des ‚Digitalpakts‘ nicht schnell genug gehen könne, da man sonst „verloren“ habe. Welcher Preis am Ende dieses Rennens winkt, bleibt unklar. Die Autorin singt völlig unreflektiert und unkritisch das Hohelied der Digitalisierung. Dabei ist der Nutzen digitaler Medien für Lern- und Bildungsprozesse nachweislich mehr als fraglich.[10] Die Erkenntnis, „dass Technologie in unseren Schulen mehr schadet als nützt“[11] ist bereits 2016 selbst bei PISA-Koordinator Andreas Schleicher angekommen. Dies verschweigt die Autorin, wenngleich sie sich zum Thema „Chancengerechtigkeit“ noch unter These zwei auf PISA berufen hat.[12]

Das Abgleiten von Unterricht in digitale Spiel- und Bilderwelten kommt einer vorgreifenden Entmündigung der Schüler gleich. Es trägt keinesfalls zur Bildung bei, sondern verhindert diese vielmehr. Bildungsprozesse sollen aber mündige Bürger hervorbringen. Dies ist eine notwendige Voraussetzung für den Fortbestand von Demokratie. In diesem Zusammenhang ist ein langer und intensiver Prozess der Enkulturation heranwachsender Menschen in die Welt der Schriftlichkeit unverzichtbar, und zwar vorzugsweise analog, d.h. durch die Auseinandersetzung mit gedruckten Büchern und das Verfassen handschriftlicher Texte. Wer diese Grundlagen von Kultur und Wissen gründlich beherrscht, wird auch mit digitalen Medien zurechtkommen.

Besonders absurd ist es, die Bedienung digitaler Technik zum Unterrichtsinhalt zu erheben: erstens sind Kinder und Jugendliche mit der Funktionsweise der Geräte in der Regel ohnehin bestens vertraut, und zweitens ist dieses Wissen mit dem Erreichen der nächsten Geräte- bzw. Softwaregeneration (ca. alle fünf Jahre) ohnehin nutzlos. Darüber hinaus bedient die Digitalisierungseuphorie im Bildungsbereich v.a. den Markt der global education industries, mitunter mit schädlichen Folgen für die Lernenden.[13]

Echte Bildung, die diesen Namen verdient, ist die beste Vorbeugung gegen die von ‚Rattenfängern‘ ausgehende Versuchung in Form einfacher Antworten auf komplexe Fragen, seien es Populisten oder Verschwörungsideologen. Sie befähigt zu eigenständigem Denken und Urteilen. Dies kann kein Erklärvideo, kein digitales Portfolio und keine Lernsoftware vermitteln, sondern hierfür bedarf es gefestigter  und gebildeter Lehrerpersönlichkeiten mit dezidiert demokratischer Grundhaltung. Diese vermögen es, selbstständiges Denken und Urteilen in lang angelegten Bildungsprozessen zu vermitteln, deren Grundlage nur ein Beziehungsgeflecht zwischen Lehrenden, Lernenden und bedeutsamen Gegenständen sein kann.

Hier soll nicht die gesamte digitale Technik in Bausch und Bogen verworfen werden. Sie hat als ein didaktisches Werkzeug neben anderen ihre Berechtigung, sie kann nützlich sein und auch den Unterricht bereichern, wenn sie sinn- und maßvoll eingesetzt wird. So etwas wie „digitale Bildung“ hingegen existiert schlichtweg nicht. Wenn überhaupt, dann wäre darunter die unterrichtliche Auseinandersetzung mit verschiedenen Aspekten von Digitalität zu verstehen, wie z.B. Handy- bzw. Spielsucht, (Cyber-)Mobbing, Datensicherheit und theoretische Grundlagen der Informationstechnologie. Ein solcher Unterricht kann und muss tatsächlich Bestandteil zeitgemäßer Bildung sein.

These 4: „Wer Plattformen pusht, darf die Pädagogen nicht vergessen.“

Die vierte These „Wer Plattformen pusht, darf die Pädagogen nicht vergessen“ inklusive der folgenden Ausführungen klingt zunächst sympathisch und beinhaltet einige richtige Punkte („Keine Plattform ersetzt Lehrer oder Lehrerin“, „Lernen gelingt nur über Beziehung“, „[…] wohl wissend, dass eine Video-Schalte den persönlichen Kontakt nie ganz [sic!] ersetzen kann“), kolportiert aber auch Phrasenhaftes („Schule ist so viel mehr als das Lernen an sich. Es geht um Gemeinschaft“) und bleibt am Ende seltsam hohl und halbherzig. Die strukturellen Probleme des Schulsystems (z.B. Lehrermangel, Überlastung der Lehrerkollegien durch Aufbürdung zusätzlicher Aufgaben wie z.B. Inklusion ohne entsprechenden Ausgleich), die aus einer verfehlten Bildungspolitik resultieren, möchte Silke Fokken zur Lösung den einzelnen Schulen überlassen.

These 5: „Wer mäßig motivierte Schüler vor sich hat, sollte mal umdenken.“

Hier präsentiert die Autorin schwarz-weiß-Denken in Reinform: es gibt nur „zugeteilte Aufgaben in einem festgelegten Rahmen abzuarbeiten, und zwar, weil sie [die Schüler] das müssen, um gute Noten zu bekommen“ oder „möglichst eigenständig und selbstbestimmt zu lernen, so wie es vor allem Schulen mit reformpädagogischen Ansätzen praktizieren.“ Lehrer als Persönlichkeiten mit Haltung und fachlich-pädagogischer Expertise, die Werte und fachliche Inhalte vermitteln, ohne dass dabei nur auf die Schulnote geschielt würde, kommen bei ihr nicht vor. Die Phrasen von der Unersetzlichkeit des persönlichen Kontakts zum Lehrer (s. These vier) laufen ins Leere, wenn nicht erkannt wird, dass echte Lern- und Bildungsprozesse in der Beziehungshaftigkeit zwischen Schüler, Lehrer und jeweiligem Gegenstand wurzeln, und anstatt dessen – gerne unter Verweis auf die Reformpädagogik – hauptsächlich auf ‚selbstgesteuertes Lernen‘ gesetzt wird. Letzteres hat die Degradierung des Lehrers zum ‚Lernmanager‘ oder ‚Lernarchitekten‘ zur Folge – wohlklingende Begriffe, die verhüllen, dass dieser Ansatz eine weitere Erosion von Bildung zur Folge haben wird.

Fazit

Mit dem Mangel an Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden unter den Bedingungen von ‚Homeschooling‘ und mit der mangelnden Chancengerechtigkeit spricht Silke Fokken durchaus ernstzunehmende Probleme an. Ihre Antworten („Flexibilität“, Aufweichen von Lehrplänen auch über die aktuelle Krise hinaus, Ganztagsschulen, Digitalisierung, Reformpädagogik) machen aber deutlich, wes Geistes Kind sie ist und welche „Chance“ sie in der Krise wittert. Ob es ihr ernst ist mit ihrer Sorge um „Ungerechtigkeiten“, darf bezweifelt werden. Eher soll hier der linksliberale Leser mit sozialem Gewissen geködert werden, um diesen in das neoliberale Projekt einzuspannen.

Dass es der Autorin nicht wirklich um Chancengerechtigkeit geht, wird dadurch deutlich, dass ihren Ausführungen keine tiefere polit-ökonomische Analyse zugrunde liegt. Wer den neoliberalen Umbau der Gesellschaft als Problemursache erkennt (Abbau des Sozialstaats, Prekarisierung und soziale Segregation in Folge von ‚Deregulierung‘), wird nicht ernsthaft „Flexibilität“ von Schulen und reformpädagogische Trostpflaster (siehe These fünf) als Lösungen betrachten können.

Gerade „in Zeiten von Corona“ sollte offen diskutiert werden, welche Veränderungen in Schule und Gesellschaft wünschenswert sind und über die Zeit der Krise hinaus bestehen bleiben sollen. Dabei müssen auch kritische Stimmen etwa zur Digitalisierung der Bildung und zur Ökonomisierung von Schulen Gehör finden und Zusammenhänge sowie Interessen außerschulischer Akteure geklärt werden. Die Fetischisierung von Begriffen wie „Flexibilität“ und „Digitalisierung“ als quasi alternativlose Werte an sich trägt nicht zu einer offenen gesellschaftlichen Diskussion bei, sondern ist undemokratisch und weist ins Totalitäre.

Herzlichen Dank an Sascha Frick und Hans-Dieter Ilgner für ihre Hinweise, Anregungen und Bestärkungen!

Düsseldorf, im Mai 2020

Tilman Gruhn

[*] Dieser Beitrag wurde erstmals am 23. Mai 2020 auf der Website der Gesellschaft für Bildung und Wissen e.V. (GBW), bildung-wissen.eu veröffentlicht.

Literatur

Binswanger, Mathias: Sinnlose Wettbewerbe: Warum wir immer mehr Unsinn produzieren. Freiburg/Basel/Wien 2010.

Fokken, Silke: Schule in Zeiten von Corona. Was wir jetzt über das Lernen lernen, in: Der Spiegel, 14.4.2020 (abgerufen am 10.5.2020 von https://www.spiegel.de/panorama/homeschooling-was-wir-jetzt-ueber-das-lernen-lernen-a-e627efd2-8157-4b80-9f5c-30ed2b2b9a13).

Gastmann, Jörg: Neoliberaler Nachfolger für abgesetzten Spiegel-Chefredakteur, auf: heise online (Telepolis), 4.9.2018 (abgerufen am 9.5.2020 von https://www.heise.de/tp/features/Neoliberaler-Nachfolger-fuer-abgesetzten-Spiegel-Chefredakteur-4153348.html).

Graupe, Silja: Der manipulierbare Geist. Das Menschenbild hinter dem Change-Management – und wie man sich dagegen wehren kann, in: Jochen Krautz / Matthias Burchardt (Hgg.): Time for Change? Schule zwischen demokratischem Bildungsauftrag und manipulativer Steuerung, München 2018, S. 155-178.

Krautz, Jochen: Rasender Stillstand: Eine Typologie des schulischen Hamsterrads, in: Matthias Burchardt / Jochen Krautz (Hgg.): Im Hamsterrad. Schule zwischen Überlastung und Anpassungsdruck. München 2019, S. 15-26.

Lankau, Ralf: Kein Mensch lernt digital. Über den sinnvollen Einsatz neuer Medien im Unterricht. Weinheim / Basel 2017.

Lankau, Ralf: Digitalisierung als De-Humanisierung von Schulen oder: Vom Unterrichten zum Vermessen. Bildungseinrichtungen unter dem Diktat von Betriebswirtschaft und Datenökonomie, in: Schriftliche Stellungnahmen zum Expertengespräch der Kinderkommission des Deutschen Bundestags „Chancen und Risiken des frühen Gebrauchs von digitalen bzw. Bildschirmmedien“. Berlin, 16. Januar 2019, S. 2.

Lankau, Ralf: Der bildungsferne Campus, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5.10.2019 (abgerufen am 10.5.2020 von https://www.faz.net/aktuell/karriere-hochschule/hoersaal/digitalisierung-der-bildungsferne-campus-16411188.html).

Münch, Richard: Der bildungsindustrielle Komplex. Schule und Unterricht im Wettbewerbsstaat. Weinheim/Basel 2018.


[1] Überschrift des Spiegel-Artikels vom 10. Oktober 1962, der die sogenannte „Spiegel-Affäre“ auslöste.

[2] Fokken (2020)

[3] Der Begriff ‚Neoliberalismus‘ soll hier für diejenige Spielart des Kapitalismus Verwendung finden, die der Profitmaximierung alles andere unterordnet und dabei auf Wettbewerb, die ‚Kräfte des Marktes‘ und den Rückbau staatlicher Institutionen setzt.

[4] Gastmann (2018)

[5] Daran, und auch bereits in der Einleitung des Textes („was sich in der Bildung künftig ändern muss“) wird deutlich, dass die ‚Corona-Krise‘ hier als Aufhänger herhalten muss, um weitgehende Forderungen zur dauerhaften Veränderung des Schulsystems vorzubringen. Der Gedanke, die „Krise als Chance“ zu begreifen, wird hier in seiner ganzen, problematischen Ambivalenz sichtbar.

[6] Zum Begriff der ‚Renaissance‘ in Bezug auf Bildung vgl. Krautz (2019)

[7] Zu den Begriffen und psychologischen Mechanismen des change management wie z.B. das unfreezing vgl. Graupe (2018),  vgl. hierzu auch die Beiträge von Matthias Burchardt und Jochen Krautz im gleichen Band und im Folgeband.

[8] Vgl. Binswanger (2010).

[9] Zum new public management in Bezug auf Schule und Bildung vgl. Münch (2018).

[10] Vgl. Lankau (2017).

[11] Andreas Schleicher, zit. nach Lankau (16. Januar 2019), S. 2.

[12] Dies ist ein typisches Beispiel dafür, dass sich mit PISA vieles begründen und politisch fordern lässt, wenn man nur auf die ‚richtigen Befunde‘ verweist.

[13] Vgl. Lankau (5. Oktober 2019).

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