Schöne neue Lernwelt?

Versuch einer Entgegnung auf Joscha Falcks Diskussions-Beitrag zur digitalen Schultransformation „Die Fortbildung ist tot, es lebe die Fortbildung“

Im „Twitterlehrerzimmer“ (#twlz) wurde kürzlich ein Blog-Beitrag von Joscha Falck mit dem Titel „Die Fortbildung ist tot, es lebe die Fortbildung“ zur Diskussion gestellt.[1] Falck ist Mittelschullehrer, Schulentwicklungsmoderator, Lehrbeauftragter an der Uni Bamberg und engagiert sich in der Kommunalpolitik bei den Grünen.[2] Hauke Pölert hat Falcks Beitrag und die daran anschließende Twitter-Diskussion auf seiner Website unterrichten.digital zusammengefasst.[3] Er schreibt: „Der Autor von „Die Fortbildung ist tot, es lebe die Fortbildung“ hat in seinem Meinungsbeitrag seine Zielvorstellungen der schulischen Transformationen mit Hinweisen auf einige Preisträger-Schulen dargelegt und das Fortbildungsgeschehen daraufhin kritisiert, wenig zu dieser Veränderung beizutragen.“ Pölert kommt mit Blick auf die anschließende Diskussion zu dem Schluss, „dass die (digitale) Transformation der Schule wohl so etwas ist wie eine begriffliche Projektionsfläche“, deren Pole ein „modernisiertes ‚Weiter so'“ und eine „Neuaufstellung grundsätzlicher Bedingungen für schulisches Lernen“ seien. Die im Beitrag formulierte Zielrichtung wurde in der Diskussion auf Twitter bisher überwiegend positiv aufgenommen, was nicht weiter verwundert, da sich die im #twlz versammelte LehrerInnenschaft, zumindest gefühlt, als digitale Avantgarde ihres Berufsstandes begreift.

Der Titel von Falcks Text ist meines Erachtens leicht irreführend, denn das Thema Fortbildung dient hier eher als Aufhänger für einen breiteren Aufschlag zur Diskussion um die Digitalisierung von Schulen und um „zeitgemäße Lernkultur“. Ich nehme dies im Folgenden meinerseits zum Anlass, mich zum Thema digitale Schultransformation grundsätzlich zu äußern. „Trigger-Warnung“: An manchen Punkten meiner Auseinandersetzung mit dem Text werde ich mir Polemik bzw. Sarkasmus nicht gänzlich verkneifen können. Mir geht es aber keinesfalls um persönliche Diffamierung, sondern um produktiven Streit in der Sache, wobei für meine Begriffe ein wenig Salz durchaus dazugehört. Falls sich jemand dadurch allzu sehr auf den Schlips getreten fühlt, möchte ich mich dafür bereits an dieser Stelle vorsorglich entschuldigen!

Den zu Beginn von Falcks Beitrag vorherrschenden kritischen Ton gegenüber dem „Digitalisierungs-Hype“ möchte ich zunächst ausdrücklich positiv würdigen. Die Skepsis gegenüber einer immer weitergehenden „technischen Hochrüstung des Bildungsbetriebs“ teile ich. Auch den Gedanken einer „geistigen Kreisbewegung“ in Bezug auf den häufig vorzufindenden entelechetischen (seinen Zweck in sich selbst tragenden) Umgang mit digitalen Tools finde ich treffend formuliert. Man könnte ihn sogar noch weiter verallgemeinern, etwa hinsichtlich bestimmter, jeweils „angesagter“ Unterrichtsmethoden/-rituale, die durch exzessive Anwendung Gefahr laufen, inhaltsleer zu werden und zum Selbstzweck zu verkommen.

Soweit so gut, und mit dem Satz, „dass diese digitale Transformation an Schulen zu Ende erzählt ist“, hätte man es von mir aus bewenden lassen können. Die Betonung liegt aber auf dem Wort „diese“, und was darauf folgt, ist meines Erachtens höchst kritikwürdig. Mir fehlt fast völlig, um direkt auf den Punkt zu kommen, eine pädagogische und gesellschaftspolitische Grundlegung der Ziele „zeitgemäßer Lernkultur“, so wie diese im weiteren Text umrissen wird. Die „eigentliche Transformation“ der Schule (zu was eigentlich?) sei laut Volker Arntz, Schulleiter der Hardtschule Durmersheim (Deutscher Schulpreis 2020, oho!), nur durch eine Art konzertierte Aktion zu erreichen, nämlich durch den „gemeinsam organisierte[n] Aufbruch der schulischen Strukturen“ – Aufbruch im Sinne von Aufbrechen. Dieser Ansatz erinnert mich erstens rein begrifflich an Fracking und zweitens zu sehr an das Entrepreneur-Geschwafel von „disruptiver Innovation“, um ihn als Pädagoge ernst nehmen zu können.

In einer Fußnote erwähnt Falck denn auch, dass die Transformation an der preisgekrönten Hardtschule Durmersheim mittels Scrum™ erfolgt sei. „Scrum ist“, laut der Homepage der IT-Unternehmensberatung Inwerken, welche ich hier beispielhaft zitiere, „eine agile Methodik im Bereich Projektmanagement, welche flexibel auf diverse Projekte angewendet werden kann. Es unterscheidet sich zum [sic] klassischen Projektmanagement in der Hinsicht, dass es keine Projektleitung mehr gibt, welche die Aufgaben an die Teammitglieder verteilt. Des Weiteren hat Scrum keine klassischen Projektphasen, sondern sogenannte „Sprints“. Dies sind Durchläufe, die zwischen einer bis vier Wochen dauern können. Ziel ist es am Ende eines jeden Sprints ein potenziell lieferbares Produkt zu haben, welches mit Anzahl der Sprints immer weiter ausreift, bis es fertiggestellt ist.“[4]

Es handelt sich also um ein Paradebeispiel für die unsägliche, weil unreflektierte Übernahme von „Management-Methoden“ aus der (IT-)Wirtschaft in den Bildungsbereich. Die Chiffre „Agilität“, unter der Scrum™ läuft, ist in den letzten Jahren als inhaltsleeres Modewort ubiquitär in Kreisen hipper Digitaldidaktiker geworden. Das ist bedenklich, da auf diese Weise bei aller Unreflektiertheit neoliberale Ideologie reinsten Wassers in den Bildungsbereich einsickert, wo diese definitiv nicht hingehört. Oder wollen wir als PädagogInnen wirklich kopflos („keine Projektleitung mehr“) und unter Selbstausbeutung (Aufgaben werden nicht verteilt, sondern offenbar vor lauter Begeisterung freiwillig übernommen) zur Transformation gehetzt werden (das ist zumindest meine Assoziation zu „Sprint“) und dies auch unseren SchülerInnen vorleben? Überhaupt wird mir in Falcks Text (aber nicht nur dort) zu viel aus der Wirtschaft nachgeplappert, was sich schon an den verwendeten Begrifflichkeiten festmachen lässt („hybrid“, „Team“, „coachen“, „Management-Prozesse“, „projektartig“, „Lernjobs“). Der (Halb-) Satz „Damit zeitgemäße digitale Ansätze den Nährboden bekommen, auf dem sie ihre Potenziale wirklich entfalten können.“ klingt wohl nicht zufällig wie der Werbe-Claim eines EdTech (Educational Technology) Unternehmens. Und was ist an der Zielsetzung, igendwelche ominösen Potenziale der Digitalisierung „wirklich“ nutzen zu können, eigentlich besser als die geistige Kreisbewegung um digitale Tools? Das Gerede von Potenzialen ist und bleibt reine Fiktion, solange diese nicht gründlich erprobt, kritisch beleuchtet und evidenzbasiert evaluiert wurden. Annina Förschler hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass EdTech Unternehmen ihre Produkte häufiger mit Potenzialen bewerben als mit Fakten.[5]

In der schönen neuen Schulwelt geht es nun also den überkommenen Strukturen an den Kragen, sei es das Stundenraster, der Klassenverband, die Fächereinteilung oder Prüfungen und Zensuren. Lehrer sollen in Teams arbeiten, irgendetwas „konstruieren“, z.B. (am besten individualisierte) Kompetenzraster und wahlweise hybride oder digitale „Lernlandschaften“, und überhaupt Schülerinnen und Schüler vor allem beim Lernen begleiten bzw. „coachen“, anstatt sie zu unterrichten. Letzteres Wort steht original in Anführungszeichen, wird mithin also am liebsten gar nicht mehr in den Mund genommen. Wenn sich Schule aber erst einmal in ihren grundlegenden Strukturen radikal verändern muss, damit die Digitalisierung überhaupt gewinnbringend für sie sein kann, möchte ich doch einmal den Sinn dieser Transformation infrage stellen. Bis zum Ende des Textes bleibt die eigentliche Zielsetzung des skizzierten Transformationsprozesses nebulös. Es ist die Rede von „Bedingungen, unter denen Lernen (auch mit digitalen Möglichkeiten) kommunikativ, kooperativ und kreativ organisiert werden kann“ sowie von „Strukturen […], die kreative Entfaltung, effektive Zusammenarbeit, unterstützende Begleitung und individuelles Feedback wirklich zulassen“. Mir sei die Frage gestattet, ob dies im herkömmlichen Unterricht im Klassenverband denn ausgeschlossen ist? Erfüllte der Unterricht guter Lehrkräfte nicht immer schon die vorgenannten Kriterien wenigstens zum guten Teil? Und macht es die Sache besser, wenn schlechte Lehrkräfte in neuen Strukturen die SchülerInnen beim Lernen sich selbst bzw. der Eigenlogik von Lernplänen und -landschaften überlassen? Wäre es nicht hilfreicher, den Lehrkräfte : SchülerInnen-Schlüssel zu verbessern, wenn einem etwa individuelles Feedback besonders am Herzen liegt?

Aus tiefster Pädagogenseele drängt sich zudem die für mich entscheidende Frage auf, ob wir in der zukünftigen „zeitgemäßen Schule“ nicht Gefahr laufen, eine Generation von Einzelkämpfern heranzuziehen, die zwar willig ihre „Lernjobs“ erledigen, für die „Standard-Anforderungen“ jedoch keine Rolle mehr spielen, da alles individualisiert wurde, und für die Sozialverhalten v.a. bedeutet, die anderen nicht vom Abarbeiten ihrer Lernpläne bzw. -landschaften zu stören. Echte Sozialität (abseits von „Team“-Arbeit) lässt sich in derartigen Settings nicht erleben und erlernen, denn dafür bedarf es einer festen Gruppe mit den ihr eigenen Dynamiken sowie der Lehrkraft als verlässlicher und pädagogisch verantwortlicher Bezugsperson. Solches ist aber von einer fragmentierten Gesellschaft und speziell von ihrer Wirtschaft, die vor allem flexibel-angepasster Joberfüller bedarf, die im vorgegebenen Rahmen auch recht „kreativ“ sein dürfen, wohl auch gar nicht erwünscht.

Lernen in der Schule hat aber immer auch gesellschaftliche und politische Implikationen. Sich als Teil einer Gemeinschaft zu erleben, ist die Voraussetzung dafür, auch im politischen Sinne gemeinsam handeln zu können. Wie sonst sollten die Herausforderungen unserer Zeit gelöst werden können, wenn nicht durch politisches Handeln im Geiste menschlicher Gemeinschaft und Solidarität? Ich nenne nur die Klimakrise, sozio-ökonomische und sozio-kulturelle Fragmentierung, Autoritarismus, gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit wie Rassismus, Frauen- und Queerfeindlichkeit oder Klassismus. Die mit der Digitalisierung einhergehende Ideologie des Solutionismus führt in die Irre, da Fortschritt allein durch technische Weiterentwicklung in Bezug auf o.a. Probleme illusionär ist. Wie sollen sich aber Gemeinschaft und kritischer Geist formen (die Verbindung von beidem ist wichtig), wenn nicht im Spannungsfeld von Lerngruppe und Lehrkraft, die auch als (an-)greifbare Instanz in Erscheinung tritt, im Gegensatz zur hybriden Lernlandschaft oder zum digitalen Lernplan, deren Voraussetzungen und Mechanismen für die Lernenden (und oft genug wohl auch für die Lehrenden) schwer zu durchblicken sind. Sigrid Hartong hat in diesem Zusammenhang mit Blick auf Plattform-basierte Tools darauf hingewiesen, dass es darauf ankommt, deren Modellierungen zu hinterfragen, statt nur ihre Anwendung zu thematisieren.[6]

Sicherlich ist schwarz-weiß-Denken in Bezug auf die natürliche Veränderung schulischer Bildung mit der Zeit unangebracht. Schule muss aktuelle Entwicklungen in Gesellschaft, Wirtschaft, Kultur, Wissenschaft und Technik aufgreifen und, wenn nötig auch kritisch, thematisieren. Von pädagogisch Handelnden erwarte ich dementsprechend eine klare Haltung und die Verkörperung von Werten wie Sozialität, kritisches Denken und Demokratie. Ich spreche mich daher klipp und klar gegen die Transformation von Schulbildung in eine wie auch immer geartete „neue Lernkultur“ im Sinne Joscha Falcks u.a. aus. Jener Hybrid aus Digitalisierung und Reformpädagogik ist, so wie er sich mir darstellt, eine Schimäre. Hinter wohlklingenden Begrifflichkeiten wie „selbstgesteuertes Lernen“, „hybride Lernlandschaften“, „Coaching“ usw. steht die Tendenz der Vereinzelung und Zurichtung des Individuums zur Konformität. Dies kann nicht im Sinne unserer Gesellschaft und Demokratie sein. Aus diesem meinem Resümee spricht viel Skepsis und natürlich habe ich im Sinne der Zuspitzung vieles ausgeblendet, z.B. die offensichtlichen Nachteile herkömmlichen lehrerzentrierten Unterrichts und die zweifellos guten Absichten aller namentlich genannten Akteure. Für diese Einseitigkeit meines Meinungsbeitrags bitte ich um Verständnis. Gerade durch sie erhoffe ich mir jedoch eine fruchtbare Diskussion unter uns pädagogisch Handelnden über die angesprochenen Themen, denn ich unterstelle niemandem aus dem Bildungsbereich böse Absichten, sondern ich glaube an unser gemeinsames Interesse am Wohlergehen der kommenden Generationen.

Anmerkungen

[1] https://joschafalck.de/fortbildung-ist-tot/

[2] https://kiwies.com/joscha-falck-im-interview-zu-schulentwicklung-digitalisierung-bildungspolitik-und-zeitgeschehen/

[3] https://unterrichten.digital/2022/10/06/fortbildung-digitalisierung-schule/

[4] https://www.inwerken.de/glossar/was-ist-scrum/

[5] Impulsvortrag von Annina Förschler vom 08.06.2022  auf dem Symposium der Evangelischen Kirche im Rheinland „Mensch.Maschine.Algorithmus – Symposium Digitale Bildung und Künstliche Intelligenz“

[6] vgl. z.B. https://denk-doch-mal.de/sigrid-hartong-algorithmisierung-von-bildung-ueber-schrumpfende-spielraeume-fuer-demokratisches-ver-handeln-und-warum-die-edtech-industrie-nicht-das-einzige-problem-ist/

Ist die Rede vom Unterwerfungspazifismus die Dolchstoßlegende unserer Tage?
Wi(e)der „neue Lernkultur“

Comments

  1. Vielen Dank für diese Perspektive, die ich teile und im Twitterlehrerzimmer (und auch realen Lehrerzimmern) regelmäßig vermisse.

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